Antragsteller*in: | Sarah Bamberger |
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A14: Chancengerechtigkeit durch sprachliche Bildung: Mehrsprachigkeit als Ressource
Antragstext
Status Quo
Sprache ist Macht. Sie bestimmt unser Denken und Handeln, ermöglicht Empathie
und kann Frieden stiften. Dennoch wird zwei- oder mehrsprachiges Aufwachsen nach
wie vor mehrheitlich als Manko gesehen, das es abzuwehren und wenn möglich zu
verhindern gilt. Explizit Sprachen des osteuropäischen, asiatischen und
afrikanischen Raumes genießen weder Anerkennung noch Wertschätzung in
österreichischen Bildungsinstitutionen. Das Modell der Hierarchie der Sprachen
verdeutlicht diesen Umstand: Deutsch als nationale Sprache ist den Minderheiten-
und Migrationssprachen, Sprachvarietäten und Ethnolekten übergeordnet. Jener
Umstand zeigt sich auch in der „German-only-policy“ der österreichischen
Politik. Mehrsprachigkeit scheint in Bildungseinrichtungen keinen Platz zu
haben, das möglichst rasche Erlernen der deutschen Sprache von Kindern mit
anderen Erstsprachen hat höchste Priorität. Die oft geforderten und auch
mehrheitlich umgesetzten Deutschförderklassen zielen exakt darauf ab. Dass jene
nicht nur aus sprachwissenschaftlicher, sondern auch aus sozialer Sicht
hinderlich sind, wird von BildungswissenschaftlerInnen und praktisch Tätigen
bereits jahrelang kritisiert: Soziale Ausgrenzung wird verstärkt und ein
natürliches Erlernen der Sprache nach dem Immersionsprinzip sowie sogenanntes
Content-Integrated-Learning verhindert. Die Konstruktion des Monolingualismus
als Norm führt jedoch dazu, dass den Familiensprachen eine marginalisierte
Stelle in der Bildungspolitik und in der pädagogischen Praxis zugewiesen wird.
Liddicoat & Curnow, die mehrere Untersuchungen im Bereich Mehrsprachigkeit
durchführten, sprechen in diesem Zusammenhang von einem Problem der Wahrnehmung
und der Ideologie: «The lack of space for student’s home languages in curricula
is therefore a perceptual and ideological problem».
Diese Marginalität hat weitreichende Auswirkungen auf den Bildungserfolg von
Kindern: So erreichte bei den Bildungsstandards im Jahr 2020 ein Drittel der
Schüler_innen mit Migrationshintergrund die gesetzten Ziele nicht, ein weiteres
Drittel nur teilweise. Bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund war dieses
Verhältnis genau umgekehrt, fast zwei Drittel erreichten oder übertrafen die
Lernziele. Ein Korrelation zwischen der Erstprache und dem Bildungserfolg
erscheint hier durchaus auffällig.
Warum Erstsprachen explizit gefördert werden müssen
Statt die Erst- und die Zweitsprache als sich getrennt entwickelnde Systeme zu
betrachten und dementsprechend zu beurteilen, plädieren neue Konzepte wie das
dynamic model of multilingualism für die einheitliche Betrachtung der sich
dynamisch entwickelnden Sprachen.
Dass eine gefestigte Erstprache das Erlernen einer Zweitsprache erleichtert,
wird auch von Studien und Untersuchungen belegt. So zeigte bereits die Studie
von Verhoeven 1994, dass insbesondere in phonologischen, pragmatischen und
literalen Fähigkeiten eine Abhängigkeit zwischen verschiedenen Sprachen
vorliegt. Auch der Hauptbefund der Studie von Dufva und Voeten (1999) zeigte
einen positiven Einfluss der Erstsprache auf die Fremdsprache Englisch in den
Bereichen Worterkennung, Lese- und Hörverstehen sowie bezüglich des
phonologischen Gedächtnisses.
Ebenso lässt sich jene Annahme aus entwicklungspsychologischer Sicht bestätigen.
Wird ein Kind mit einer weiteren Sprache konfrontiert, bildet die Erstsprache
einen wesentlichen Faktor für die Entwicklung der Zweitsprache. Bereits
erworbene Elemente in der Erstsprache beeinflussen die Erwerbsprozesse der
Zweitsprache. Sprachstrukturen und -regeln, die in der Erstsprache und in der
Zweitsprache identisch sind, werden leicht und fehlerfrei erworben. Beim Erwerb
von unterschiedlichen Sprachelementen stellt die Erstsprache Strukturen zur
Verfügung, die in der neuen Sprache noch nicht erworben sind und erleichtert so
den Sprachlernprozess.
Bestehen erhebliche Defizite in der Erstsprache, wird das Erlernen der
Zweitsprache negativ beeinträchtigt. Da in den ersten Lebensjahren das Fundament
für die weitere Sprachentwicklung aller Sprachen gelegt wird, kann der Erwerb
einer weiteren Sprache nur dann adäquat vonstatten gehen, wenn die Erstsprache
bereits differenziert erworben wurde.
Unabhängig von ihrem positiven Effekt auf die Zweitsprache geht es bei der
Erstsprachenförderung primär um bildungspolitische Entscheidungen, welche die
gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung der Familiensprachen ins Zentrum
stellen sollten. Denn nur ein positives, wertschätzendes und annehmendes Umfeld
kann, wie die entwicklungspsychologische Forschung zeigt, zu echtem
Bildungserfolg führen.
Konsequenzen und Lösungen für ein zukunftsfites Bildungssystem
Unter sprachlicher Bildung werden grundsätzlich «alle pädagogischen Bemühungen
(...), dem Kind durch direkte oder indirekte Massnahmen diejenigen
Sprachkontexte zu bereiten, die es braucht, um seine
Sprachentwicklungspotentiale in möglichst allen Facetten optimal zu entwickeln»
verstanden. Chancengerechtigkeit durch sprachliche Bildung bedeutet
dementsprechend, das gesamte sprachliche Potenzial eines Individuums
diversitätsbewusst zu fördern.
In diesem Zusammenhang kommt Lehrpersonen zum einen die zentrale Aufgabe zu,
mehrsprachige Schüler_innen in all ihren sprachlichen Potenzialen differenziert
wahrzunehmen. Dafür braucht es jedoch eine stärkere Sensibilisierung sowie
Thematisierung im Lehramtstudium.
→ Wir fordern also, dass die theoretischen und didaktischen Ansätze der
Mehrsprachigkeit einen zentralen Platz in der Lehrer_innenausbildung finden.
Weiters muss, wie oben bereits erörtert wurde, Erstprachenförderung Einzug in
österreichische Bildungsinstitutionen und Curricula erhalten. Dies kann primär
durch eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen herkunftssprachlichen und
österreichischen Lehrpersonen geschehen und erfordert innovative
Unterrichtsmethoden.
→ Wir fordern also, dass die Erstsprachen der Schüler_innen zunehmend etwa durch
den zeitlich beschränkten Einsatz herkunftssprachlicher Lehrpersonen in der
Regelklasse, wöchentliches Teamteaching während eines Quartals oder Semesters,
integrierten Deutsch-Unterricht oder den Einbezug in Schulprojekte gefördert
werden.
Trotz stärkerem Fokus auf die Förderung der Erstsprachen von Schüler_innen darf
und soll die Bedeutung von Deutsch als Bildungssprache nicht nach unten
nivelliert werden. Genau aus aus jenem Grund braucht es den sogenannten
sprachsensiblen Unterricht, der einen bewussten Umgang mit Sprache als Medium
zum Ziel hat und dessen Umsetzung ebenfalls eine Sensibilisierung des
Lehrpersonals erfordert.
→ Deshalb fordern wir die explizite Förderung der Unterrichtssprache Deutsch in
ausnahmslos allen Fächern.
Begründung
1) vgl. Anthony J. Liddicoat, Timothy Jowan Curnow: Students' home languages and the struggle for space in the curriculum
3) vgl. Fried (2010)
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